Andrea Wolfensberger
Between Yes, I do and Certainly not!, 2022–24
4-teiliges Skulpturenensemble Wellkarton, Schellack, Pigment
Museum Morsbroich, Leverkusen
Ausgangspunkt des 4-teiligen Skulpturenensembles Between Yes, I do and Certainly not!, das die Schweizer Künstlerin Andrea Wolfensberger im Rahmen der Werkstatt Morsbroich für den historischen Spiegelsaal des Museum Morsbroich entworfen hat, ist der Ort – seine Beschaffenheit, seine Besonderheit, seine Bedeutung sowie seine unterschiedlichste Nutzung durch den Menschen.
Der Spiegelsaal wurde Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge eines Erweiterungsbaus als repräsentativer Salon im Stil des französischen Rokokos für die gesellige, insbesondere musikalische Unterhaltung des höfischen Adels gebaut. Heute dient der Saal dem Museum wie auch der Stadt Leverkusen als Raum für unterschiedlichste Veranstaltungen und Formate. Hier finden Ausstellungseröffnungen, Künstlergespräche, Vorträge, Performances und Ehrungsfeiern statt; hier werden Konzerte und Lesungen veranstaltet, Hochzeiten geschlossen, Fotoshootings realisiert und politische Debatten geführt. Hier wird geträumt und Realpolitik gemacht, geliebt und gestritten, hier werden Visionen geboren und Träume geschreddert. Der Spiegelsaal ist eine Theaterbühne auf der gegenwärtige Komödien, Dramen und Tragödien aufgeführt werden – eine Bühne der Mehrstimmigkeit.
Werden Worte laut gesprochen, werden Schallwellen im Luftraum erzeugt. Schallwellen bilden physische Formen. Diese unsichtbaren und ephemeren Klangbilder bilden den Ausgangspunkt von Andrea Wolfensbergers Skulpturenensemble. Es sind menschliche Stimmen, die den Objekten ihre Form geben, Stimmen, die »Ja« sagen und Stimmen, die »Nein« sagen. Hierfür wurden Bürger:innen von Leverkusen angefragt, eine klare Zustimmung und eine klare Ablehnung ins Mikrophon zu sprechen. Diese digitalen Stimmaufzeichnungen wurden von der Künstlerin über ein digitales Programm visuell in Linien und Kurven übersetzt, die die Lautstärke und die Zeit dergesprochenen Worte aufzeigen. In Bewegung versetzt, ergeben diese Stimmkurven Flächen, abstrakte Landschaften mit Hügeln und Tälern, Schluchten und Steilwänden. Sie bilden die Grundlage für die Konstruktion der Skulpturen.
Je nach Standpunkt der betrachtenden Person ermöglicht die Struktur des gewählten Materials – dem Wellkarton – Durchblicke, wirkt mal transparent und leicht, mal massiv und undurchsichtig. Wellkarton steht als Material für Zeitlichkeit, es ist verletzlich und hat eine Ablaufzeit. Mit Wellkarton werden keine Monumente errichtet, sondern Momente erzeugt.
Neben ihrer starken skulpturalen Präsenz im Raum, können drei der vier Objekte je nach Anlass auch als Möbel benutzt werden: als Trautisch an dem sich Brautpaare das Ja-Wort geben, als Rednerpult und als Diskussionstisch für Reden und Widerreden. Allein eines der vier Elemente fungiert als rein skulpturale Setzung, die dem historischen Ambiente des Spiegelsaals eine aktuelle Mehrstimmigkeit entgegensetzt – eine Mehrstimmigkeit, die dazu einlädt, die eigene Stimme zu erheben, genau hinzuhören, präzise hinzusehen und sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen.
Andrea Wolfensberger (*1961 in Zürich) lebt und arbeitet in Waldenburg (CH). Nach einem Studium an der École Supérieure d’Art Visuel in Genf stellte sie seit Mitte der 1980er-Jahre in zahlreichen Ausstellungen in der Schweiz, in Deutschland und Frankreich aus und realisierte Arbeiten im öffentlichen Raum und als Kunst am Bau.